Komponisten

Leopold Hurt

Leopold Hurt
Portraittext

Leopold Hurts kompositorische Entwicklung ist von Einflüssen geprägt, wie sie unterschiedlicher kaum sein könnten: Da ist seine Ausbildung zum Zitheristen, einem Instrument, das zwar, wie Hurt betont, seine Prägung im bürgerlich-urbanen Milieu des 19. Jahrhunderts erfahren hat und heute vermehrt in der Neuen Musik eingesetzt wird, das aber nichtsdestotrotz in erster Linie mit volksmusikalischen Idiomen in Verbindung gebracht wird. Da ist sein Studium der Alten Musik und der historischen Aufführungspraxis in München, und nicht zuletzt ist da sein Kompositionsstudium bei Manfred Stahnke in Hamburg, einem experimentellen Komponisten, dessen kompositorische Schwerpunkte u. a. auf mikrotonalem Komponieren liegen.

Hurts Musik zeichnet aus, dass sie diese Einflüsse nicht adaptiert, sondern zu ihnen Stellung bezieht. Er thematisiert Alte Musik wie traditionelle Volksmusik gleichermaßen in seinen Kompositionen, ohne dass diese Teil seiner originären Musiksprache werden. Neben der eingehenden Analyse der verwendeten Materialien ist es vor allem eine Konfrontation mit dem scheinbar Bekannten, das in neuen Zusammenhängen wiederum befremdlich wirken kann. So sagt Hurt in einem Interview: „Gerade in der Volksmusik ist das ein komplexes Unterfangen. Ähnlich wie in der Alten Musik ist die Gefahr latent vorhanden, dass das Material innerhalb einer künstlerischen Auseinandersetzung nostalgisch verbrämt oder ‚restauriert’ wird. Das ist jedoch kein Thema für mich: Ich sehe die Musik vielmehr dort, wo sie soziologisch verortet ist. Abseits von institutioneller Pflege und touristischer Folklore interessieren mich die vorhandenen Spuren einer ungeschönten, ‚schmutzigen' Musizierpraxis. Ihre Geschichte bietet für mich eine Reibungsfläche, in der ich Übergänge zwischen konkreter Abbildung und Abstraktion herstellen und dabei unverbrauchte Klangmöglichkeiten des Instrumentariums nutzen kann.“

Die Art und Weise, wie der Umgang mit historischem Material als „objet trouvé“ in Hurts Kompositionen verarbeitet wird, ist dabei äußerst vielfältiger Natur. In seiner 2007 uraufgeführten Ensemblekomposition „Erratischer Block“ hat Hurt sich beispielsweise „augenzwinkernd und ernsthaft zugleich“, so Till Knipper in einem Bericht in der nmz (3/2011), „zwischen die Vorurteile gedrängt und historische Tonaufzeichnungen alpenländischer Musik aus den 1920er Jahren als klangliche objets trouvés zu einem ungewöhnlichen Ausgangspunkt dieser Musik gemacht. Er seziert die historischen Aufnahmen, um sich dann wieder gemeinsam mit dem Hörer an die ursprüngliche Gestalt zurückzutasten.“ In seiner Komposition „Seismographien“ (2009) ist die Alte Musik das Thema. Hier dient die „Missa Et Ecce Terrae Motus“ von Antoine Brumel als Ausgangspunkt, der zunächst betrachtet und dann in sogenannten „Messungen“ musikalisch reflektiert wird.

In seinem Streichtrio „August Frommers Dinge“ (2008) wiederum ist ein Dokumentarfilm Anregung zu einer musikalischen Auseinandersetzung, ein Bericht über den Amateur-Wissenschaftler August Frommer und seinen lebenslangen Versuch, aus gefundenen Gegenständen ein Perpetuum Mobile zu konstruieren. „Ich war von dem Mann fasziniert“, so Hurt, „der völlig zurückgezogen in einem kleinen Kämmerchen gelebt, gleichzeitig aber ungewöhnlich groß gedacht hat. In meiner Komposition habe ich versucht, dieses Phänomen konzeptionell nachzuvollziehen. Auch hier geht es um die Arbeit mit dem Einfachen, um ‚Engführungen’, die in einem großen Rahmen ausgespielt werden.“

Die konzeptionellen Grenzen, die man in zahlreichen Kompositionen Hurts findet, werden in seiner Musik jedoch immer wieder aufgebrochen durch eine, so Till Knipper, „unbändige Lust an spontanen Einfällen und grotesken Wendungen, wie sie insbesondere den eigenwilligen Mittelteil von ‚Erratischer Block’ charakterisiert.“ Hurt selbst spricht in dem Zusammenhang von einer „kaputten Treppe“, die in den zweiten neuen Raum führe. Dieses Aufbrechen und Verlassen vermeintlich klarer Strukturen, sei es mit elektronischen oder instrumentalen Mitteln, dieses Reiben an den Übergängen, an den Bruchstellen, zieht sich wie ein Nerv durch Leopold Hurts gesamtes kompositorisches Schaffen und schafft eine Klanglichkeit, die seiner Musik ihren unmittelbaren prägnanten, irritierend-aufregenden Charakter verleiht.

Termine

Termine

Archiv

  1. 16.01.2024, 23:03

    rbb Kultur, "Musik der Gegenwart"

    Leopold Hurt: "The Dissociated Press Cycle" (Ausschnitt)

    Decoder Ensemble

  2. 06.11.2023

    Pan Music Festival, Seoul

    Leopold Hurt: "Dissociated Press - Input 1", "Dissociated Press - Input 2" und "Dissociated Press - Substitute 1"

    Decoder Ensemble

  3. 03.11.2023

    Pan Music Festival, Seoul

    Leopold Hurt: "Dissociated Press - Insert 4" und "Dissociated Press - Final"

    Decoder Ensemble

  4. 26.10.2023, 21:05

    SWR2, "JetztMusik"

    Leopold Hurt: "Rossbreiten"

    Trio Greifer

  5. 30.07.2023

    impuls Festival Graz

    Leopold Hurt: Teile aus "Dissociated-Press-Cycle"

    Decoder Ensemble

  6. 20.06.2023

    Deutschlandfunk Kultur

    "Unverhoffte Treppen. Der Komponist Leopold Hurt" - Eine Sendung von Michael Rebhahn, u.a. mit auszügen aus "Erratischer Block" und "Dissociated-Press-Cycle".

  7. 11.06.2023, 17:00

    Herrenhaus Edenkoben

    Leopold Hurt:
    • "Logbuch I" für Zither
    • "Rossbreiten" für zwei E-Zithern, E-Bass-Zither und Elektronik

    Trio Greifer

  8. 02.05.2023, 21:05

    SWR 2 "JetztMusik"

    "Verhandlungssache: Wie wir über (Neue) Musik sprechen". Eine Gesprächsrunde u.a. mit Leopold Hurt

  9. 20.04.2023, 20:30

    Elbphilharmonie Hamburg, Kaistudio 1

    Leopold Hurt: "Dissociated Press - Zyklus"

    Decoder Ensemble

  10. 18.04.2023, 21:05

    SWR2 "JetztMusik"

    "Abschied vom Alpenglühen – Die Transformation der Zither in der Neuen Musik". Eine Sendung von Dirk Wieschollek u.a. mit Auszügen aus
    • Leopold Hurt: "Rossbreiten"
    • Leopold Hurt: "Gatter"

    Trio Greifer, Leopold Hurt (Zither), European Workshop for Contemporary Music, Ltg.: Rüdiger Bohn

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